Sei­te Pro­log

Pro­log

»Die lebens­ret­ten­de Funk­ti­on der Ver­drän­gung in der Kind­heit ver­wan­delt sich spä­ter beim Erwach­se­nen in eine lebens­zer­stö­ren­de Macht.«

(Ali­ce Mil­ler)1 Mil­ler, Ali­ce in: Das ver­brann­te Wis­sen, Suhr­kamp Ver­lag, Frank­furt a.M. 1988, S. 19

Aus­zug aus „Bru­ders Wahn“, Sei­te 9 – 13

Fast lie­be­voll dra­pier­ten die drei Män­ner den leb­lo­sen Frau­en­leib auf dem Gleis­kör­per. Null Uhr drei­ßig. Ihre Wan­ge ruh­te auf küh­ler Schie­ne. Wäh­rend ein D‑Zug sich dumpf sir­rend näher­te, erzit­ter­te eine Sträh­ne ihres locki­gen Haa­res. Ein Blatt Papier, kra­ke­lig beschrie­ben und mit einem Stein beschwert, flat­ter­te an den Rän­dern wild auf, als der Zug rat­ternd pas­sier­te. Wie ein letz­tes Win­ken. Weil ich die Welt nicht mehr ertra­ge, stand da. Gott ver­gib mir. Han­ne­lo­re

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Curt Boeh­rin­ger erwach­te. Sofort waren sie wie­der da, die­se ewig alten Fra­gen: Was habe ich gewusst? War­um haben sie mich belo­gen? Wer­de ich jemals die Wahr­heit erfah­ren?

Doch sei­ne grau­en Zel­len lie­ßen ihn im Stich. Nein, da war nichts. Wie immer. Nichts. Hat­te er es wirk­lich gewusst? Als Kind gewusst, wer sei­ne leib­li­che Mut­ter war? Ja. Zumin­dest signa­li­sier­te das sein lim­bi­sches Sys­tem. Denn als er mit drei­ßig Jah­ren zum ers­ten Mal das Ori­gi­nal sei­ner Geburts­ur­kun­de in den Hän­den hielt, da war ihm die­ses ver­gilb­te Stück Papier zwar unsag­bar fremd, zugleich aber auch merk­wür­dig ver­traut erschie­nen. Wie durch eine Nebel­wand hat­te er auf das Doku­ment gestarrt. Minu­ten­lang. Dann die­ser hys­te­ri­sche Lach­an­fall. In die Knie war er gegan­gen, mit schmer­zen­dem Zwerch­fell, nach Luft schnap­pend wie ein Fisch auf dem Tro­cke­nen. Muss­te er das nicht als eine Art Über­sprung­hand­lung deu­ten, als gro­tes­ke Reak­ti­on auf das Gewahr­wer­den des Ver­dräng­ten? Oder war es nur ein schnö­der Reflex gewe­sen und allein der Absur­di­tät der Situa­ti­on und sei­ner Unwis­sen­heit geschul­det?

24 Jah­re waren seit­dem ver­gan­gen, fast ein Vier­tel­jahr­hun­dert, dass Gus­tav und Ire­ne Boeh­rin­ger, die Men­schen, die er damals für sei­ne Eltern hielt und die es gefühlt noch immer waren, in grau­si­ger Zwei­sam­keit den Tod gefun­den hat­ten. Erstickt im Schlaf. Laut Poli­zei­be­richt ein Unfall, einer die­ser tra­gi­schen und über­flüs­si­gen, ver­ur­sacht von einer glim­men­den Ziga­ret­te, die der Hand des Ein­schla­fen­den ent­glei­tet. Dabei hat­te sei­ne Mut­ter ihren Mann, die­sen pas­sio­nier­ten Rau­cher, wie­der und wie­der ermahnt, dass sei­ne Quarz­e­r­ei im Bett sie noch bei­de ins Grab brin­gen wer­de. Aber Gus­tav Boeh­rin­ger hat­te stets nur sein ver­schmitz­tes Lächeln auf­ge­setzt. Wann und wo er rau­che, soll­te es wohl sagen, sei allein sei­ne Sache. Da rede ihm nie­mand hin­ein.

Der Tod sei­ner Eltern mar­kier­te den trau­ri­gen Höhe­punkt einer mit Schmerz und Ver­wir­rung erfüll­ten Zeit.

Herbst 1989. Das Land im Tau­mel der Mau­er­öff­nung, Gus­tav und Ire­ne Boeh­rin­ger, weni­ge Wochen vor dem eige­nen Tod, gelähmt vom Ver­lust der ein­zi­gen Toch­ter. In den letz­ten Tagen ihres Lebens hat­te er die bei­den kaum gese­hen. Zwei Besu­che, ein paar Tele­fo­na­te, end­lo­ses Schwei­gen. Wie hät­te er sie auch trös­ten sol­len?

Er konn­te sich genau an den Anruf sei­nes Vaters und des­sen brü­chi­ge Stim­me erin­nern. Ein Sonn­tag­mor­gen war es gewe­sen und früh, gegen sechs Uhr. Kei­ne Begrü­ßung.

Es ist etwas Schreck­li­ches pas­siert.

Ist was mit Mut­ti?

Han­ne ist tot. – Pau­se. Schwe­res Atmen. – Dei­ne Schwes­ter hat sich vor einen Zug gewor­fen.

Stumm hat­te er auf das Tele­fon gestarrt. Han­ne­lo­re tot. Und er? Ganz ohne Gefühl. Er saß da und war­te­te, war­te­te auf das schmerz­haf­te Rumo­ren in den Ein­ge­wei­den, war­te­te ver­ge­bens. Einen Augen­blick lang schien es ihm gar, als ver­spü­re er Erleich­te­rung. Klamm­heim­li­che Freu­de. Aber wie konn­te das sein? Han­ne war doch sei­ne gro­ße Schwes­ter.

Das Leid der Eltern hin­ge­gen ver­moch­te er kaum zu ertra­gen. So klein und ver­lo­ren hat­ten sie an die­sem trü­ben Herbst­mor­gen vor der Fried­hofs­ka­pel­le gestan­den. Auf dem Weg zum Grab muss­te er sei­nen zit­tern­den Vater stüt­zen. Sei­ne Mut­ter hat­te Halt am Arm des Pas­tors gefun­den.

Die­se Sze­ne­rie wür­de er wohl auf ewig im Gedächt­nis behal­ten. Den fei­nen Nie­sel­re­gen, der vom Herbst­wind getrie­ben auf der Haut pri­ckel­te, die Küh­le der Luft, die den Geruch des nahen­den Win­ters barg, und das wel­ke Laub, das von Wind­bö­en getra­gen um die Füße der ein­sa­men Pro­zes­si­on wir­bel­te. Nur sei­ne Eltern, er, der Pfar­rer und die Sarg­trä­ger waren anwe­send, als sich Han­nes Sarg, beglei­tet von trost­lo­sen Phra­sen der Auf­er­ste­hung und der Unsterb­lich­keit, hin­ab in die erdi­ge Gruft senk­te. Kein Lei­chen­schmaus, nur ein Taxi, das erst sei­ne Eltern, dann ihn selbst nach Hau­se brach­te.

Vier Wochen spä­ter der Besuch zwei­er Poli­zis­ten in Zivil. Als sie klin­gel­ten, blick­te er gera­de aus dem Fens­ter. Strah­lend blau­er Him­mel, eis­kalt und hoch oben, wie hin­ge­tupft, ein Band wei­ßer Kumu­lus­wol­ken.

Sie sind Curt Boeh­rin­ger, der Sohn von Gus­tav und Ire­ne Boeh­rin­ger? Erschreck­tes Kopf­ni­cken. Wir haben eine trau­ri­ge Nach­richt für Sie.

Nach der Iden­ti­fi­zie­rung sei­ner Eltern war er lan­ge und wie betäubt durch die Stra­ßen geirrt – allein mit all dem Unge­sag­ten. Ich lie­be euch, ich dan­ke euch für alles, was ihr mir ermög­licht habt. Wor­te wie die­se waren nie über sei­ne Lip­pen gekom­men. Nun stand er da. Der Letz­te der Fami­lie Boeh­rin­ger. Schluss­punkt der Gene­ra­tio­nen­fol­ge.

An die dar­auf­fol­gen­den Wochen konn­te er sich nur bruch­stück­haft ent­sin­nen. So vie­les galt es in die­sen Tagen zu bewäl­ti­gen: die Beer­di­gung orga­ni­sie­ren, die Trau­er­kor­re­spon­denz erle­di­gen, den Nach­lass sich­ten und den Haus­halt auf­lö­sen. Dabei hat­te er die­ses Papier gefun­den, die Geburts­ur­kun­de eines Kin­des mit Namen Curt Niko­las, eines Kin­des, das er, Curt Boeh­rin­ger, einst war. Und das sich jetzt, nach so lan­ger Zeit frag­te, was damals gesche­hen sein moch­te, das aus den Groß­el­tern die Eltern und aus sei­ner leib­li­chen Mut­ter die Schwes­ter gemacht hat­te. Was für ein Cha­os!

Sechs Jah­re zähl­te er, als Gus­tav und Ire­ne – bei­de bereits Mit­te vier­zig – ihn an Kin­des statt annah­men.

Gib uns den Jun­gen, sonst brin­ge ich mich um. Die­ser Satz war ihm vor Jah­ren von einer ehe­ma­li­gen Nach­ba­rin zuge­tra­gen wor­den. Einer von ver­mut­lich vie­len ähn­li­chen Sät­zen, mit denen sei­ne Groß­mutter ihrer Toch­ter den Enkel abge­presst haben soll­te. Als Kitt für eine deso­la­te Ehe, wie von der Nach­ba­rin behaup­tet? Mag sein, denn Ire­ne Boeh­rin­ger war, neben all ihren lie­bens­wer­ten Wesens­zü­gen, eine ver­bit­ter­te und still lei­den­de Frau gewe­sen, die ihre Fami­lie unent­wegt mit Schuld­ge­füh­len trak­tier­te: Wenn ich mal tot bin, wer­det ihr schon sehen, was ihr an mir hat­tet. Dann ihr Inter­es­se an Gar­nichts, außer die­ser ewi­gen Trat­sche­rei mit den Nach­barn. Schwer zu ertra­gen für sei­nen Groß­va­ter. Der hat­te Zuflucht im Hob­by­kel­ler gefun­den. Asyl bei Märk­lin, Super 8 und Por­no.

Gehst du wie­der in dei­ne Räu­cher­stu­be? Weni­ger Fra­ge war es, eher eine resi­gnier­te Fest­stel­lung, die sich unzäh­li­ge Male aus dem Mund sei­ner Groß­mutter quäl­te, wenn ihr Mann, längst Rent­ner, sich nach dem Essen erhob, die Schach­tel Mur­at­ti-Fil­ter in die Brust­ta­sche sei­nes Hem­des stopf­te und in sein 20-Qua­drat­me­ter-Refu­gi­um hin­ab­stieg.

Mein Kel­ler­reich, nann­te er es. Dort unten waren die mit Sty­ro­por ver­klei­de­ten Wän­de, die hin­ter bun­ten Vor­hän­gen ver­bor­ge­nen Rega­le, alle Uten­si­li­en mit einer Pati­na aus altem Ziga­ret­ten­qualm über­zo­gen – Nach­lass Aber­tau­sen­der von Lun­gen­zü­gen.

Unge­zähl­te Stun­den hat­te er selbst an die­sem Ort ver­bracht. Heim­li­che Lek­tü­re schlüpf­ri­ger Lite­ra­tur. Ers­te Erfah­run­gen mit dem eige­nen Kör­per. Expe­ri­men­te mit der Super-8-Kame­ra, kur­ze Trick­film­se­quen­zen: Ein Plas­tik-God­zil­la wütet auf der Modell­ei­sen­bahn, ein Raum­schiff durch­quert die end­lo­sen Wei­ten einer schwar­zen DIN-A0-Pap­pe und klei­ne grü­ne Ali­ens ruckeln über bizar­re Land­schaf­ten aus Papp­ma­schee.

Doch da gab es noch etwas in dem Kel­ler, tief ver­gra­ben in sei­nem Kopf und ent­na­belt von sei­ner Erin­ne­rung – ein Mes­ser, ein­ge­schla­gen in wei­ßem Baum­woll­tuch. Er hat­te es zufäl­lig ent­deckt. Auf der Suche nach einem siche­ren Auf­be­wah­rungs­ort für drei Aus­ga­ben der Zeit­schrift fri­vol, die er in einem aus­ran­gier­ten Ton­band­ge­rät hat­te ver­ste­cken wol­len. Im auf­ge­schraub­ten und ent­kern­ten Gehäu­se lag es dann … die­ses Mes­ser. Dar­un­ter ein Papier­ku­vert und eine trans­pa­ren­te Plas­tik­tü­te mit rot­braun ver­färb­ten Stoff­fet­zen. Drei­zehn war er damals. Alt genug, um intui­tiv zu begrei­fen, dass er das Gerät zuschrau­ben, wie­der an sei­nen Platz stel­len und kein Wort über die Ent­de­ckung ver­lie­ren soll­te.

 Er hat­te nicht den Hauch einer Vor­stel­lung, was es mit die­sen Fund­stü­cken auf sich hat­te. Und er woll­te sie auch nicht haben. Er lieb­te sei­ne Eltern. Und so ver­gaß er jenen Nach­mit­tag, wie er all die ande­ren dunk­len Stun­den und Tage ver­ges­sen hat­te, die einst sei­ne kind­li­che See­le ver­stör­ten.