Start­sei­te Der Roman

Der Roman

Für den Düs­sel­dor­fer Gale­ris­ten Curt Boeh­rin­ger war die Geschich­te sei­ner ver­schwie­ge­nen Adop­ti­on immer ein guter Par­ty­gag. Eltern, die sich als Groß­el­tern ent­pup­pen, eine gro­ße Schwes­ter – in Wahr­heit sei­ne leib­li­che Mut­ter. Unter Hyp­no­se begibt er sich auf eine Rei­se in die Kind­heit. Fra­gen klä­ren. Er taucht ein in die okkul­ten Wahn­wel­ten sei­nes bio­lo­gi­schen Vaters, er ent­deckt ein mör­de­ri­sches Fami­li­en­ge­heim­nis, und plötz­lich wer­den die Schat­ten der Ver­gan­gen­heit leben­dig.

Buchcover

Bru­ders Wahn
ist erhält­lich als Taschen­buch und eBook
Her­aus­ge­ber: Kunst­bü­ro Düs­sel­dorf ‎(kbd)
vor­aus­sicht­li­cher ET: 2. Jah­res­hälf­te 2024 

Soft­co­ver:‎ 396 Sei­ten
Maße (L/B/H): 12.5 x 2,7 x 19 cm
Gewicht: 440 g
€ 15,99 inkl.MwSt.

eBook:  5.200 KB
€ 5,40 inkl.MwSt.
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Sei­te Lese­pro­ben

Lese­pro­ben

Deutsch­land gilt als säku­lar und auf­ge­klärt. Ein Trug­schluss. »Unter dem dün­nen Fir­nis der Auf­klä­rung gärt es«, so der Autor. In Bru­ders Wahn ent­führt er die Leser in das fins­te­re Herz der Anthro­po­so­phie. Lesen Sie nach­ste­hend drei kur­ze Teaser aus den Kapi­teln …

Sei­te Pro­log

Pro­log

»Die lebens­ret­ten­de Funk­ti­on der Ver­drän­gung in der Kind­heit ver­wan­delt sich spä­ter beim Erwach­se­nen in eine lebens­zer­stö­ren­de Macht.«

(Ali­ce Mil­ler)1 Mil­ler, Ali­ce in: Das ver­brann­te Wis­sen, Suhr­kamp Ver­lag, Frank­furt a.M. 1988, S. 19

Aus­zug aus „Bru­ders Wahn“, Sei­te 9 – 13

Fast lie­be­voll dra­pier­ten die drei Män­ner den leb­lo­sen Frau­en­leib auf dem Gleis­kör­per. Null Uhr drei­ßig. Ihre Wan­ge ruh­te auf küh­ler Schie­ne. Wäh­rend ein D‑Zug sich dumpf sir­rend näher­te, erzit­ter­te eine Sträh­ne ihres blut­ver­krus­te­ten Haa­res. Ein Stück wei­ßes Lei­nen­pa­pier, eng und kra­ke­lig beschrie­ben und mit einem Stein beschwert, flat­ter­te an den Rän­dern wild auf, als der Zug rat­ternd pas­sier­te. Wie ein letz­tes Win­ken. Weil ich die Welt nicht mehr ertra­ge, stand da. Gott ver­gib mir. Han­ne­lo­re

+ + +

Curt Boeh­rin­ger erwach­te. Sofort waren sie wie­der da, die­se ewig alten Fra­gen: Was habe ich gewusst? War­um haben sie mich belo­gen? Wer­de ich jemals die Wahr­heit erfah­ren?

Doch sei­ne grau­en Zel­len lie­ßen ihn im Stich. Nein, da war nichts. Wie immer. Nichts. Hat­te er es wirk­lich gewusst? Als Kind gewusst, wer sei­ne leib­li­che Mut­ter war? Ja. Zumin­dest signa­li­sier­te das sein lim­bi­sches Sys­tem. Denn als er mit drei­ßig Jah­ren zum ers­ten Mal das Ori­gi­nal sei­ner Geburts­ur­kun­de in den Hän­den hielt, da war ihm die­ses ver­gilb­te Stück Papier zwar unsag­bar fremd, zugleich aber auch merk­wür­dig ver­traut erschie­nen. Wie durch eine Nebel­wand hat­te er auf das Doku­ment gestarrt. Minu­ten­lang. Dann die­ser hys­te­ri­sche Lach­an­fall. In die Knie war er gegan­gen, mit schmer­zen­dem Zwerch­fell, nach Luft schnap­pend wie ein Fisch auf dem Tro­cke­nen. Muss­te er das nicht als eine Art Über­sprung­hand­lung deu­ten, als gro­tes­ke Reak­ti­on auf das Gewahr­wer­den des Ver­dräng­ten? Oder war es nur ein schnö­der Reflex gewe­sen und allein der Absur­di­tät der Situa­ti­on und sei­ner Unwis­sen­heit geschul­det?

24 Jah­re waren seit­dem ver­gan­gen, fast ein Vier­tel­jahr­hun­dert, dass Gus­tav und Ire­ne Boeh­rin­ger, die Men­schen, die er damals für sei­ne Eltern hielt und die es gefühlt noch immer waren, in grau­si­ger Zwei­sam­keit den Tod gefun­den hat­ten. Erstickt im Schlaf. Laut Poli­zei­be­richt ein Unfall, einer die­ser tra­gi­schen und über­flüs­si­gen, ver­ur­sacht von einer glim­men­den Ziga­ret­te, die der Hand des Ein­schla­fen­den ent­glei­tet. Dabei hat­te sei­ne Mut­ter ihren Mann, die­sen pas­sio­nier­ten Rau­cher,  wie­der und wie­der ermahnt, dass sei­ne Quarz­e­r­ei im Bett sie noch bei­de ins Grab brin­gen wer­de. Aber Gus­tav Boeh­rin­ger hat­te stets nur sein ver­schmitz­tes Lächeln auf­ge­setzt. Wann und wo er rau­che, soll­te es wohl sagen, sei allein sei­ne Sache. Da rede ihm nie­mand hin­ein.

Der Tod sei­ner Eltern mar­kier­te den trau­ri­gen Höhe­punkt einer mit Schmerz und Ver­wir­rung erfüll­ten Zeit.

Herbst 1989. Das Land im Tau­mel der Mau­er­öff­nung, Gus­tav und Ire­ne Boeh­rin­ger, weni­ge Wochen vor dem eige­nen Tod, gelähmt vom Ver­lust der ein­zi­gen Toch­ter. In den letz­ten Tagen ihres Lebens hat­te er die bei­den kaum gese­hen. Zwei Besu­che, ein paar Tele­fo­na­te, end­lo­ses Schwei­gen. Wie hät­te er sie auch trös­ten sol­len?

Er konn­te sich genau an den Anruf sei­nes Vaters und des­sen brü­chi­ge Stim­me erin­nern. Ein Sonn­tag­mor­gen war es gewe­sen und früh, gegen sechs Uhr. Kei­ne Begrü­ßung.

Es ist etwas Schreck­li­ches pas­siert.

Ist was mit Mut­ti?

Han­ne ist tot. – Pau­se. Schwe­res Atmen. – Dei­ne Schwes­ter hat sich vor einen Zug gewor­fen.

Stumm hat­te er auf das Tele­fon gestarrt. Han­ne­lo­re tot. Und er? Ganz ohne Gefühl. Er saß da und war­te­te, war­te­te auf das schmerz­haf­te Rumo­ren in den Ein­ge­wei­den, war­te­te ver­ge­bens. Einen Augen­blick lang schien es ihm gar, als ver­spü­re er Erleich­te­rung. Klamm­heim­li­che Freu­de. Aber wie konn­te das sein? Han­ne war doch sei­ne gro­ße Schwes­ter.

Das Leid der Eltern hin­ge­gen ver­moch­te er kaum zu ertra­gen. So klein und ver­lo­ren hat­ten sie an die­sem trü­ben Herbst­mor­gen vor der Fried­hofs­ka­pel­le gestan­den. Auf dem Weg zum Grab muss­te er sei­nen zit­tern­den Vater stüt­zen. Sei­ne Mut­ter hat­te Halt am Arm des Pas­tors gefun­den.

Die­se Sze­ne­rie wür­de er wohl auf ewig im Gedächt­nis behal­ten. Den fei­nen Nie­sel­re­gen, der vom Herbst­wind getrie­ben auf der Haut pri­ckel­te, die Küh­le der Luft, die den Geruch des nahen­den Win­ters barg, und das wel­ke Laub, das von Wind­bö­en getra­gen um die Füße der ein­sa­men Pro­zes­si­on wir­bel­te. Nur sei­ne Eltern, er, der Pfar­rer und die Sarg­trä­ger waren anwe­send, als sich Han­nes Sarg, beglei­tet von trost­lo­sen Phra­sen der Auf­er­ste­hung und der Unsterb­lich­keit, hin­ab in die erdi­ge Gruft senk­te. Kein Lei­chen­schmaus, nur ein Taxi, das erst sei­ne Eltern, dann ihn selbst nach Hau­se brach­te.

Vier Wochen spä­ter der Besuch zwei­er Poli­zis­ten in Zivil. Als sie klin­gel­ten, blick­te er gera­de aus dem Fens­ter. Strah­lend blau­er Him­mel, eis­kalt und hoch oben, wie hin­ge­tupft, ein Band wei­ßer Kumu­lus­wol­ken.

Sie sind Curt Boeh­rin­ger, der Sohn von Gus­tav und Ire­ne Boeh­rin­ger? Erschreck­tes Kopf­ni­cken. Wir haben eine trau­ri­ge Nach­richt für Sie.

Nach der Iden­ti­fi­zie­rung sei­ner Eltern war er lan­ge und wie betäubt durch die Stra­ßen geirrt – allein mit all dem Unge­sag­ten. Ich lie­be euch, ich dan­ke euch für alles, was ihr mir ermög­licht habt. Wor­te wie die­se waren nie über sei­ne Lip­pen gekom­men. Nun stand er da. Der Letz­te der Fami­lie Boeh­rin­ger. Schluss­punkt der Gene­ra­tio­nen­fol­ge.

An die dar­auf­fol­gen­den Wochen konn­te er sich nur bruch­stück­haft ent­sin­nen. So vie­les galt es in die­sen Tagen zu bewäl­ti­gen: die Beer­di­gung orga­ni­sie­ren, die Trau­er­kor­re­spon­denz erle­di­gen, den Nach­lass sich­ten und den Haus­halt auf­lö­sen. Dabei hat­te er die­ses Papier gefun­den, die Geburts­ur­kun­de eines Kin­des mit Namen Curt Niko­las, eines Kin­des, das er, Curt Boeh­rin­ger, einst war. Und das sich jetzt, nach so lan­ger Zeit frag­te, was damals gesche­hen sein moch­te, das aus den Groß­el­tern die Eltern und aus sei­ner leib­li­chen Mut­ter die Schwes­ter gemacht hat­te. Was für ein Cha­os!

Sechs Jah­re zähl­te er, als Gus­tav und Ire­ne – bei­de bereits Mit­te vier­zig – ihn an Kin­des statt annah­men.

Gib uns den Jun­gen, sonst brin­ge ich mich um. Die­ser Satz war ihm vor Jah­ren von einer ehe­ma­li­gen Nach­ba­rin zuge­tra­gen wor­den. Einer von ver­mut­lich vie­len ähn­li­chen Sät­zen, mit denen sei­ne Groß­mutter ihrer Toch­ter den Enkel abge­presst haben soll­te. Als Kitt für eine deso­la­te Ehe, wie von der Nach­ba­rin behaup­tet? Mag sein, denn Ire­ne Boeh­rin­ger war, neben all ihren lie­bens­wer­ten Wesens­zü­gen, eine ver­bit­ter­te und still lei­den­de Frau gewe­sen, die ihre Fami­lie unent­wegt mit Schuld­ge­füh­len trak­tier­te: Wenn ich mal tot bin, wer­det ihr schon sehen, was ihr an mir hat­tet. Dann ihr Inter­es­se an Gar­nichts, außer die­ser ewi­gen Trat­sche­rei mit den Nach­barn. Schwer zu ertra­gen für sei­nen Groß­va­ter. Der hat­te Zuflucht im Hob­by­kel­ler gefun­den. Asyl bei Märk­lin, Super 8 und Por­no.

Gehst du wie­der in dei­ne Räu­cher­stu­be? Weni­ger Fra­ge war es, eher eine resi­gnier­te Fest­stel­lung, die sich unzäh­li­ge Male aus dem Mund sei­ner Groß­mutter quäl­te, wenn ihr Mann, längst Rent­ner, sich nach dem Essen erhob, die Schach­tel Mur­at­ti-Fil­ter in die Brust­ta­sche sei­nes Hem­des stopf­te und in sein 20-Qua­drat­me­ter-Refu­gi­um hin­ab­stieg.

Mein Kel­ler­reich, nann­te er es. Dort unten waren die mit Sty­ro­por ver­klei­de­ten Wän­de, die hin­ter bun­ten Vor­hän­gen ver­bor­ge­nen Rega­le, alle Uten­si­li­en mit einer Pati­na aus altem Ziga­ret­ten­qualm über­zo­gen – Nach­lass Aber­tau­sen­der von Lun­gen­zü­gen.

Unge­zähl­te Stun­den hat­te er selbst an die­sem Ort ver­bracht. Heim­li­che Lek­tü­re schlüpf­ri­ger Lite­ra­tur. Ers­te Erfah­run­gen mit dem eige­nen Kör­per. Expe­ri­men­te mit der Super-8-Kame­ra, kur­ze Trick­film­se­quen­zen: Ein Plas­tik-God­zil­la wütet auf der Modell­ei­sen­bahn, ein Raum­schiff durch­quert die end­lo­sen Wei­ten einer schwar­zen DIN-A0-Pap­pe und klei­ne grü­ne Ali­ens ruckeln über bizar­re Land­schaf­ten aus Papp­ma­schee.

Doch da gab es noch etwas in dem Kel­ler, tief ver­gra­ben in sei­nem Kopf und ent­na­belt von sei­ner Erin­ne­rung – ein Mes­ser, ein­ge­schla­gen in wei­ßem Baum­woll­tuch. Er hat­te es zufäl­lig ent­deckt. Auf der Suche nach einem siche­ren Auf­be­wah­rungs­ort für drei Aus­ga­ben der Zeit­schrift fri­vol, die er in einem aus­ran­gier­ten Ton­band­ge­rät hat­te ver­ste­cken wol­len. Im auf­ge­schraub­ten und ent­kern­ten Gehäu­se lag es dann … die­ses Mes­ser. Dar­un­ter ein Papier­ku­vert und eine trans­pa­ren­te Plas­tik­tü­te mit rot­braun ver­färb­ten Stoff­fet­zen. Drei­zehn war er damals. Alt genug, um intui­tiv zu begrei­fen, dass er das Gerät zuschrau­ben, wie­der an sei­nen Platz stel­len und kein Wort über die Ent­de­ckung ver­lie­ren soll­te.

 Er hat­te nicht den Hauch einer Vor­stel­lung, was es mit die­sen Fund­stü­cken auf sich hat­te. Und er woll­te sie auch nicht haben. Er lieb­te sei­ne Eltern. Und so ver­gaß er jenen Nach­mit­tag, wie er all die ande­ren dunk­len Stun­den und Tage ver­ges­sen hat­te, die einst sei­ne kind­li­che See­le ver­stör­ten.

Sei­te Das Hasen­grab

Das Hasen­grab

»Wie gesagt, noch ein totes Tier bewahrt stär­ke­re Kräf­te der Intui­ti­on als man­che mensch­li­che Wesen mit ihrem uner­bitt­li­chen Ratio­na­lis­mus.«

(Kom­men­tar von Joseph Beuys zu sei­ner Akti­on »Wie man dem toten Hasen die Bil­der erklärt«)1 Beuys, Josef zit. n. Hoh­mann, Sil­ke in: Mono­pol-Sup­ple­ment ‚beuys 2021‘, Ber­lin 2021, S. 33

Aus­zug aus „Bru­ders Wahn“, Sei­te 131 – 134

Drei mal vier Meter maß der Raum – ein unter­ir­di­scher Bun­ker jen­seits der Wan­der­we­ge im Kot­ten­forst, einem aus­ge­dehn­ten Wald­ge­biet süd­lich von Bonn. Hier hat­te er unter einer Wald­lich­tung die­sen ver­ges­se­nen Muni­ti­ons­bun­ker aus dem Zwei­ten Welt­krieg ent­deckt. Kein Zufall. Eine Wehr­machts­kar­te aus den frü­hen 40ern hat­te ihn gelei­tet. Die war sei­nem Vater von Rüdi­ger Wachs­muth, einem Freund und Wis­sens­bru­der, anver­traut wor­den.

Der Bun­ker hat­te sich als ein nur pro­vi­so­risch errich­te­tes Bau­werk erwie­sen. Wän­de und Decke aus sprö­den Beton, der Boden nur fest­ge­stampf­te Erde. In schweiß­trei­ben­der Arbeit hat­te er den Raum von Unrat und Morast befreit und die Luke, sie lag gleich­auf mit dem Wald­bo­den, mit Holz und Moos beklebt und mit einem funk­ge­steu­er­ten Ver­rieg­lungs­me­cha­nis­mus aus­ge­rüs­tet.

Hasen­grab hat­te er den Bun­ker getauft. Hasen­grab – wegen der drei ver­mo­der­ten Hasen­ske­let­te, die er beim Aus­mis­ten des Rau­mes ent­deckt hat­te. Die Schä­del hin­gen jetzt vor ihm an der Wand neben einem unter­arm­ho­hen Kru­zi­fix aus Eichen­holz und einem hand­tel­ler­gro­ßen Selbst­por­trät sei­nes Vaters – gemalt mit skiz­zen­haf­ten Pin­sel­stri­chen auf brau­ner Pap­pe. Unter­halb des Bil­des stand ein Sche­mel, der dem Alten einst zum Ver­schnau­fen dien­te.

Das Gra­vi­ta­ti­ons­zen­trum des Rau­mes aber bil­de­te ein schwe­rer Eisen­ku­bus mit einer Kan­ten­län­ge von rund fünf­zig Zen­ti­me­tern, den Georg vor Ort aus meh­re­ren Plat­ten zusam­men­ge­schraubt hat­te. Der Zweck die­ses Mons­trums, das in einer Ecke des Ver­lie­ses ruh­te, doku­men­tier­te eine ein­ein­halb Meter lan­ge Stahl­ket­te, die aus dem Inne­ren des von Flug­rost über­zo­ge­nen Kör­pers zu wach­sen schien und deren Ende mit einer Hand­schel­le ver­schweißt war.

Das Bild des Eth­no­lo­gen Pierre Peter­sen tauch­te vor Georg auf, wie der vor weni­gen Mona­ten ent­kräf­tet, ver­schmutzt und mit blu­tig geschürf­tem Hand­ge­lenk auf dem küh­len Lehm­bo­den kau­er­te, den Ober­kör­per ängst­lich an die Wand gepresst.

Dem Alten war sofort klar gewe­sen, dass die Mut­ter die­ses Mulat­ten zu vie­le Roma­ne gele­sen hat­te, in denen Neger mit­spiel­ten. Den Frau­en krö­chen dann von Natur aus Bas­tar­de aus dem Schoß. Das hät­te auch schon Dok­tor Stei­ner gewusst.2Pas­sus inspi­riert von: Stei­ner, Rudolf: Zehn­ter Vor­trag, 30. Dezem­ber 1922, Fie­ber – Kol­laps – Schwan­ger­schaft, in: Über Gesund­heit und Krank­heit. Grund­la­gen einer geis­tes­wis­sen­schaft­li­chen Sin­nes­leh­re (GA 348), 4. Aufl., Dor­nach, 1997, S. 189: »… da ent­steht durch rein geis­ti­ges Lesen von Neger­ro­ma­nen eine gan­ze Anzahl von Kin­dern in Euro­pa, die ganz grau sind, Mulat­ten­haa­re haben wer­den, die mulat­ten­ähn­lich aus­se­hen wer­den!«

Drau­ßen in der Welt war Peter­sen an vor­ders­ter Ver­leum­dungs­front mar­schiert, hat­te einen Hei­den­lärm ver­an­stal­tet, sich die Fin­ger wund geschrie­ben und wut­schäu­mend gegen alles agi­tiert, was aus jen­sei­ti­gen Gefil­den in das Bewusst­sein der Men­schen dräng­te. Nur eines woll­te er gel­ten las­sen – Wis­sen­schaft! Empi­rie! Ratio­na­li­tät! Unbe­irrt hat­te er die­ses Den­ken als das eige­ne genom­men, nicht gespürt, dass es ein von den ahri­ma­ni­schen Kräf­ten Auf­ge­zwun­ge­nes war.

Georg erin­ner­te sich genau, wie er die Kopf­haut des Man­nes mit Engelstau ver­sie­gelt hat­te, einer Sub­stanz, deren Wir­kung sein Vater vor Jah­ren ent­deckt und mit dem wun­der­ba­ren Namen Engelstau beschrie­ben hat­te. Neun Tei­le Tier­fett von Wie­der­käu­ern, ein Teil Kno­chen­mehl vom Hirsch, ver­rührt beim Licht des zuneh­men­den Mon­des. Eine Mix­tur, die die Ein­flüs­te­run­gen der im Leib hau­sen­den Geis­ter zur Kennt­lich­keit ver­stär­ken und so dem Men­schen hel­fen soll­te, den Trug der frem­den Gedan­ken zu durch­schau­en. Doch meist miss­trau­te der ver­gif­te­te Geist der Wahr­heit. Auch Pierre Peter­sen reagier­te ver­wirrt und ver­wei­ger­te sich grei­nend dem Wis­sen­wol­len. Der üble Geruch von Urin, Kot, Angst­schweiß und Tod hat­te wochen­lang die Luft des Hasen­grabs ver­pes­tet und Georgs Erin­ne­rung an die letz­ten Stun­den die­ses Man­nes wach­ge­hal­ten. Wie der ihn nur noch stumpf ange­starrt und jäm­mer­lich um sein biss­chen Leben gewin­selt hat­te.

Wah­re Erlö­sung, hat­te er zu dem Misch­ling gesagt, kön­nen dir nur Tod und kar­mi­sche Läu­te­rung schen­ken. Neu­es Leben, neue Chan­ce. Da hat­te Peter­sen auf­ge­stöhnt und ihn mit ungläu­big auf­ge­ris­se­nen Augen ange­se­hen. Ungläu­big. Georg schmun­zel­te über den Dop­pel­sinn des Wor­tes.

Immer­hin hat­te der Kerl noch den Namen eini­ger Kum­pa­ne aus­ge­spuckt. Wohl in der Hoff­nung, mit sei­ner Gestän­dig­keit dem Unaus­weich­li­chen ein wenig Zeit abzu­trot­zen, viel­leicht sogar sein Leben zu ret­ten. Aber so waren die meis­ten von ihnen. Erst zum Schluss rück­ten sie mit ein paar Bröck­chen Wahr­heit her­aus.

Die Hoff­nung stirbt zuletzt, aber sie stirbt. Die­se Plat­ti­tü­de pfleg­te sein Vater bei sol­chen Gele­gen­hei­ten schmun­zelnd zu zitie­ren. Jetzt ruh­te Pierre Peter­sen zu sei­nen Füßen. Unter zwei Hand­breit Erde, wie es sich für einen astro­lo­gi­schen Stein­bock geziemt. Erd­zei­chen gehö­ren unter die Erde gebracht, hat­te sein Vater ihm ein­ge­schärft. Nur auf die­se Wei­se kön­ne der Delin­quent mit einer guten Pro­gno­se in das nächs­te Erden­le­ben ent­las­sen wer­den.

Noch immer spür­te Georg die Todes­angst des Man­nes. Sie erfüll­te den gesam­ten Raum und wür­de das Pro­ze­de­re befruch­ten, das er für die Gold­mund geplant hat­te. Mit ihrem Ver­hör galt es eine Prü­fung zu absol­vie­ren, wie er sie sich ele­men­ta­rer nicht vor­stel­len konn­te.

Der Gedan­ke an die Phi­lo­so­phin ließ ihn vor Zorn erzit­tern, ein Zorn, der ihn unbe­herrscht mach­te, den er zügeln muss­te und der, das wuss­te er nur zu genau, nicht die­ser Frau allein galt, son­dern eben­so ihm selbst.

Wohl an die tau­send­mal hat­te er die Grün­de die­ses Selbst­has­ses mit sei­nem Vater durch­de­kli­niert und sie wie­der und wie­der in der Janus­köp­fig­keit der Welt gefun­den. Denn die durch­pflüg­te auch ihn selbst, ließ ihn eine Art per­ver­ses Ver­ste­hen für die­se Sub­jek­te auf­brin­gen. Mit­un­ter gar Mit­leid, weil er einst wie sie war und ein mor­scher Teil sei­ner See­le sich ihnen nach wie vor ver­bun­den fühl­te. Im Schlaf wur­de er von ihrem Kla­gen und Wim­mern gepei­nigt. Da konn­te er sich noch so sehr auf die Hei­lig­keit sei­ner Mis­si­on beru­fen. Es gab Zei­ten, da bra­chen die­se Bil­der in sein Leben ein wie der Mahl­strom in die ruhi­ge See. In die­sen Momen­ten der see­li­schen Not, in denen ihm sein grau­sa­mes Tun und die Brü­chig­keit sei­ner Exis­tenz schmerz­haft gewahr wur­den, leis­te­te sein Vater ihm Bei­stand. Klug tat er das, ver­ständ­nis­voll und gedul­dig. Er rief ihm alte Lek­tio­nen ins Gedächt­nis. Das Töten fol­ge einer über­ge­ord­ne­ten Ver­nunft und ent­sprän­ge der Not­wen­dig­keit, See­len­gü­te wal­ten zu las­sen. Nicht gegen­über dem ver­gäng­li­chen Leib der Ver­führ­ten. Allein ihr gött­li­ches Ich galt es zu erret­ten.

Georg stell­te zwei Kar­tons mit Lebens­mit­teln neben den Eisen­ku­bus. Pro­vi­ant für die Gold­mund. Alles woll­te gut vor­be­rei­tet sein.

Tage­buch

Tage­buch
(Aus­zü­ge)

»Ver­nunft ist nichts Auto­ma­ti­sches. Jene, die sie leug­nen, kön­nen nicht durch sie erobert wer­den.«

Ayn Rand1 zit. n. For­bes, auf­ge­ru­fen am 19.02.2024 (Zitat im Ori­gi­nal: »Reason is not auto­ma­tic. Tho­se who deny it can­not be con­que­r­ed by it.«)

Aus­zug aus „Bru­ders Wahn“, Sei­te 37 – 39

8. Mai 1954: Auf den Tag genau neun Jah­re ist es her, fast so lan­ge, wie der gan­ze Spuk selbst gedau­ert hat. Eine ver­ta­ne Chan­ce. Hät­te etwas Gro­ßes draus wer­den kön­nen, Schöp­fe­ri­sches. Jetzt tun sie so, als ob nichts gewe­sen wäre, prah­len mit ihren feis­ten Bäu­chen und stin­ken­den Zigar­ren, haben nur eins im Kopf: Deutsch­land Wirt­schafts­wun­der­land! Anstatt sich das Wams voll­zu­schla­gen, soll­ten sich die­se Kre­tins lie­ber um ihr See­len­heil küm­mern. Und ich? Ich rede mir den Mund fus­se­lig. Jeden Abend – von sie­ben bis neun. Und was bewe­ge ich? War­me Luft bewe­ge ich. Es ist frus­trie­rend.

12. Mai 1954: So darf es nicht wei­ter­ge­hen. Füh­le mich leer und unnütz. Wage nicht, das Rich­ti­ge zu tun.

26. Mai 1954: Wie hat der alte Lie­ber­mann gesagt? Ick kann jar nich soville fres­sen, wie ick kot­zen möch­te. So ging’s mir ges­tern, geht’s mir heu­te, wird’s mir mor­gen gehen. Es sei denn, ich über­win­de die Angst und fol­ge den See­len­strö­men, die in mein Leben flie­ßen.

19. Juni 1954: Die Erin­ne­run­gen ver­fol­gen mich. Wache näch­tens um Punkt vier auf, höre das Pol­tern im Trep­pen­haus und das Wum­mern gegen die Tür. Sehe die angst­ge­wei­te­ten Augen der Eltern, mei­ne Mut­ter, wie sie mir mit zit­tern­der Hand ihr Medail­lon um den Hals hängt und mich fest drückt. Ver­giss nie, war­um wir auf der Welt sind, flüs­tert sie. Habe die bei­den nicht wie­der­ge­se­hen. Der Typhus habe sie dahin­ge­rafft, hieß es spä­ter. Typhus. Ich war nicht so blö­de, als daß ich die­se Lüge für bare Mün­ze genom­men hät­te. Bin sicher, daß der Alb­druck eine Bot­schaft ist. Soll ich ihrem Ruf fol­gen und ein Sol­dat der Lie­be wer­den?

5. Juli 1954: Freu­dig glän­zen­de Gesich­ter aller­or­ten, bei den Kol­le­gen in der Schu­le, auf den Stra­ßen, in den Schän­ken. Über­all nur ein The­ma: Wir sind wie­der wer. Wir sind Welt­meis­ter! Wider­wil­lig tue ich mit, obwohl es mich ekelt. Denn wie tönen die Lei­ber, wenn sie schwit­zend dem Ball nach­ja­gen? Ich glau­be nicht an Gott. Ich glau­be an Fleisch und Kno­chen, das ist mei­ne ein­zi­ge Selig­keit. Teu­fels­ker­le! Fuß­ball­göt­ter! Was für eine ver­damm­te Blas­phe­mie! Arme und Hän­de (das ori­gi­när Mensch­li­che) sind ver­bo­ten bei die­sem Spiel. Statt­des­sen wird die blo­ße Kul­tur der Bei­ne gepflegt. Sogar der Kopf wird als unte­re Extre­mi­tät miss­braucht, wird zu einem drit­ten Fuß beim Kopf­stoß. Rei­ne Lei­bes­dä­mo­nie ist das. Die will den Men­schen weg­zie­hen vom Geis­ti­gen und zu einem Erden­tier machen. Welt­meis­ter! Wie schau­er­lich, wenn man um die spi­ri­tu­el­len Hin­ter­grün­de weiß.2Pas­sus inspi­riert von 1.: Stei­ner, Rudolf: Vom Wir­ken des Äthe­ri­schen und Astra­li­schen im Men­schen und in der Erde. Mai 1923, in: Vor­trä­ge für die Arbei­ter am Goe­the­an­um­bau (GA 350), 3. Aufl., Dor­nach, 1991, S. 28f: »Ja, wofür inter­es­sie­ren sich heu­te die Men­schen? Also viel mehr als für irgend­ein Ereig­nis, das mit Wohl und Wehe von Mil­lio­nen Men­schen etwas zu tun hat, inter­es­sie­ren sich heu­te die Leu­te für die­se Din­ge (Stei­ner bezieht sich hier vor allem auf das Fuß­ball­spiel H.H.), die nach und nach den phy­si­schen Leib weg­zie­hen vom Äther­leib, so daß der Mensch über­haupt nur­mehr ein Erden­tier wird. (…) Dann gehen sie auf den Sport­platz. Ja, da spre­chen sie es nicht mit Wor­ten aus, aber was die da tun, wenn man es in Wor­te fasst, so heißt das: Ich glau­be ja nicht an einen Gott im Him­mel. Der hat mir den Äther­leib gege­ben, aber von dem will ich nichts wis­sen. Ich glau­be an Fleisch und Kno­chen, das ist mei­ne ein­zi­ge Selig­keit.«

Pas­sus inspi­riert von 2.: Birn­tha­ler, Micha­el: Der Streit um den Fuß­ball, in: Erzie­hungs­kunst, 6/2006, S. 688–694: »Das bekann­tes­te wal­dorf­päd­ago­gi­sche Argu­ment gegen das Fuß­ball­spiel ent­stammt der anthro­po­so­phi­schen Anthro­po­lo­gie, wel­che den Men­schen in einen Kopf­be­reich mit dem Ner­ven-Sin­nes-Sys­tem (Den­ken), den Brust­be­reich mit dem Rhyth­mi­schen Sys­tem (Füh­len) und einen drit­ten Bereich mit dem Stoff­wech­sel-Glied­ma­ßen­sys­tem (Wol­len) glie­dert. Was den Men­schen pri­mär vom Tier unter­schei­det, ist die ›Umbil­dung‹ des Stoff­wech­sel-Glied­ma­ßen­sys­tems, das heißt, die Umwand­lung der bei­den vor­de­ren Bei­ne in Arme und Hän­de. Somit sind zwei Glied­ma­ßen von der haupt­säch­li­chen Funk­ti­on der Fort­be­we­gung befreit wor­den und haben dadurch die ›handwerklich‹-technische und kul­tu­rel­le Ent­wick­lung des Men­schen ermög­licht. Beim Fuß­ball­spiel dage­gen zeigt sich das ent­ge­gen­ge­setz­te Bild: Arme und Hän­de, das spe­zi­fisch Huma­ne, sind aus­ge­schal­tet und ver­bo­ten; statt­des­sen wird wie in kei­ner ande­ren Dis­zi­plin eine blo­ße Kul­tur der Bei­ne gepflegt. Die Redu­zie­rung der mensch­li­chen Wesens­be­stand­tei­le geht dann so weit, dass auch der Kopf zu einem Glied­ma­ßen­or­gan umfunk­tio­niert wird: In sei­ner Mög­lich­keit, per ›Kopf­stö­ße‹ zu agie­ren und Tore zu erzie­len, erhält er die Bedeu­tung eines drit­ten ›Fußes‹.«

8. Juli 1954: Mich pla­gen Zwei­fel. Schwe­res Rin­gen. Ist mei­ne Hin­ga­be an das Wahr­haf­ti­ge und die Ver­ach­tung für das Wider­stre­ben­de groß genug, um das Not­wen­di­ge zu tun? Unbarm­her­zig­keit wäre mein stän­di­ger Beglei­ter. Was wür­den Vater und Mut­ter raten? Wür­den sie mich drän­gen, als stump­fes Her­den­vieh zu leben?

10. Juli 1954: Ging in der Früh die Cor­ne­li­us­stra­ße ent­lang, als ein Mann vor mir auf den Geh­steig prall­te. Aus gro­ßer Höhe gesprun­gen, lag er da. Mit dem gebro­che­nen Rücken auf dem Bord­stein. Ein Selbst­mör­der. Ich hab getan, was ich tun muss­te, stöhn­te er und starb.

14. Juli 1954: Die Wor­te des Selbst­mör­ders gehen mir nicht aus dem Sinn. Bin sicher, dass sie den Zau­de­rer in mir über­zeu­gen wol­len, sich end­lich sei­ner Auf­ga­be zu stel­len. Denn Wirk­lich­keit wird der gött­li­che Plan allein durch das beherz­te Han­deln des Ein­ge­weih­ten. Ich bin ein Ein­ge­weih­ter. Bin es, seit ich den­ken kann. Habt Dank, Vater und Mut­ter.

Sei­te In Trance 1

In Trance 1

»Das Erin­nern an ver­gan­ge­ne Din­ge ist nicht unbe­dingt das Erin­nern an gesche­he­ne Din­ge.«

(Mar­cel Proust …)1… frei nach David Ros­si in: Cri­mi­nal Minds, Staf­fel 6, Fol­ge 3

Aus­zug aus „Bru­ders Wahn“, Sei­te 67 – 71

(…) »Aha, kogni­ti­ve Dis­so­nanz. Inter­es­san­te Hypo­the­se«, ant­wor­te­te der Psych­ia­ter mit hoch­ge­zo­ge­nen Augen­brau­en. »Sie wol­len mich doch nicht arbeits­los machen, Herr Kol­le­ge?« Er räus­per­te sich und for­der­te Curt auf, die beschrie­be­nen Ereig­nis­se hin­sicht­lich Deut­lich­keit und Gefühls­in­ten­si­tät zu bewer­ten. Danach folg­te, was der Gale­rist vom auto­ge­nen Trai­ning her kann­te. Arme und Bei­ne, die warm und schwer gere­det wur­den, ein Herz, des­sen Rhyth­mus von Back­haus’ mono­to­ner Stim­me gebeugt, lang­sam und ruhig schlug.

Ein Gefühl von Gebor­gen­heit erfüll­te ihn. Ein leich­ter, nicht unan­ge­neh­mer Schwin­del sug­ge­rier­te ihm, tie­fer und tie­fer zu glei­ten. Von weit her hör­te er die Wor­te des Psych­ia­ters: »Sie ste­hen am Fuße einer hell erleuch­te­ten Trep­pe. Die führt nach unten. Die Stu­fen sind breit und sicher. Es ist die Trep­pe Ihrer Erin­ne­rung. Mit jeder Stu­fe gehen Sie ein Jahr zurück in der Zeit. Sie sind ent­spannt und wohl­be­hü­tet.«

Vor Curts Augen tanz­ten wol­ki­ge Schlei­er. Unbe­stimm­te Umris­se zeich­ne­ten sich ab, lös­ten sich auf. Einen Atem­zug lang gerann der amor­phe Dunst zu über­di­men­sio­na­len Stu­fen, um dann den Blick auf eine Trep­pe frei­zu­ge­ben.

»Tun Sie den ers­ten Schritt.« Curt ging ihn. Jetzt zähl­te er 54 Jah­re.

»Rechts sehen Sie Türen. Dahin­ter lie­gen die Stät­ten Ihrer Erin­ne­rung … Sie sind auf Stu­fe 40, Sie gehen wei­ter, Stu­fe für Stu­fe … 39 … 38 … 37 …«

Der Gale­rist fühl­te sich leicht und unbe­schwert. Die­ser Zustand ent­sprach so gar nicht der von ihm befürch­te­ten Wil­len­lo­sig­keit. Ohne Beden­ken folg­te er den Anwei­sun­gen. Minu­ten spä­ter stand er auf Stu­fe 4.

»Wir begeg­nen nun einer Ihrer frü­hes­ten Erin­ne­run­gen. Die Tür zu Ihrer Rech­ten ist geöff­net. Sie führt in die Küche Ihrer Groß­el­tern.«

Curt ver­such­te, in den wabern­den Schwa­den etwas zu erken­nen. Zuerst war da nichts, bald aber schäl­ten sich blas­se Bil­der her­aus, kon­tur­lo­se Gebil­de ohne Bestand, die sich immer wie­der neu zu sche­men­haf­ten Vor­stel­lun­gen zusam­men­füg­ten, um sich dann irgend­wann zu einer kon­kre­ten Sze­ne­rie zu ver­dich­te­ten: Han­ne, Fried­helm und er saßen am Küchen­tisch. Fried­helm strich mit einer Hand über sei­nen Stop­pel­schnitt. Mit sei­nen klei­nen Schweins­äug­lein fixier­te er Han­ne. Das Bild wur­de undeut­lich und ver­schwand, nahm im nächs­ten Augen­blick erneut Gestalt an. Die Per­spek­ti­ve hat­te sich geän­dert. Curt schau­te nicht mehr von außen auf die Situa­ti­on. Dies­mal sah er alles aus den Augen sei­nes vier­jäh­ri­gen Ich. Er schil­der­te Back­haus sei­ne Ein­drü­cke: den bun­ten Vor­hang, halb geöff­net, der die geräu­mi­ge Koch­ni­sche mit Buf­fet­schrank und Koh­le­ofen vom Wohn­be­reich der Küche trenn­te. Da war der Tisch mit der blau-weiß karier­ten Wachs­tuch­de­cke, dar­auf die bun­ten Lego­stei­ne, aus denen er gera­de ein klei­nes Haus bau­te. Das Ölbild an der Wand zeig­te eine Land­schaft mit schlam­mi­gem Wan­der­weg. Ganz deut­lich sah er auch das Limo­na­den­glas, bedruckt mit auf Ele­fan­ten umher­tol­len­den Schim­pan­sen. Auf dem Side­board vor dem Fens­ter stand sein Spar­schwein aus rosa­far­be­nem Plas­tik. Dane­ben glüh­te grün das magi­sche Auge des Röh­ren­ra­di­os. Er lausch­te der Erin­ne­rung. »Die spie­len mein Lieb­lings­lied«, brach es freu­dig aus ihm her­aus, und mit lei­ser Sing­stim­me ergänz­te er: »Ich will ’nen Cow­boy als Mann.«

Back­haus beug­te den Ober­kör­per nach vorn. »Beschrei­ben Sie, was gera­de pas­siert.«

Curt atme­te zunächst ruhig und gleich­mä­ßig. Dann plötz­lich zwäng­ten sich Wor­te aus sei­nem Mund – wider­stre­bend und in leich­tem Stac­ca­to. »Fried­helm sagt: Lass uns gehen, aber allein. Er zeigt mit dem Dau­men in mei­ne Rich­tung. Han­ne schüt­telt den Kopf, sie ist ärger­lich. Curt­chen kommt mit, sagt sie. Fried­helm fragt, ob das sein muss. Ja, das muss sein. Er ist mein Bru­der und er freut sich schon den gan­zen Tag auf den Aus­flug. Fried­helm springt auf. Wie ihr mir auf die Ner­ven geht, schimpft er. Du und dein Balg. Bru­der! Leg mal ’ne ande­re Plat­te auf. Hät­test du dich nicht flach­le­gen las­sen, hin­ge er dir nicht den lie­ben lan­gen Tag am Rock­zip­fel! Dann müss­test du nicht die­ses lächer­li­che Thea­ter mit­ma­chen. Das ist doch krank. Der Klei­ne weiß eh, aus wel­chem Loch er gekro­chen ist.«

Der Gale­rist ver­stumm­te. Minu­ten ver­stri­chen. Stil­le. Schließ­lich hak­te der Psych­ia­ter nach, doch Curt schwieg. Schwieg, weil die Koch­ni­sche plötz­lich leer, ihm fremd und von einem Däm­mer­grau erfüllt war, in dem sich nur die Sil­hou­et­te eines kan­ti­gen Holz­stuh­les abzeich­ne­te, genau in der Mit­te des Rau­mes. Die­ser Raum gehör­te nicht in die­se Woh­nung, nicht in sein Leben. Doch bevor er sich auf das düs­te­re Bild und die­ses Gefühl der Käl­te, das in durch­ström­te, ein­las­sen konn­te, hör­te er Back­haus’ Stim­me: »Sie ver­las­sen jetzt den Ort Ihrer Kind­heit und gehen lang­sam die Trep­pe hin­auf.« Mono­ton zähl­te der Psych­ia­ter von 5 bis 55. »Sie füh­len sich frisch und erholt. Öff­nen Sie die Augen.«

Curt blin­zel­te und schau­te direkt in Back­haus’ Gesicht. »Wie geht es Ihnen?«, frag­te der.

Der Gale­rist benö­tig­te eini­ge Momen­te, um sich zu fan­gen. Dann berich­te­te er von der eigen­tüm­li­chen Ver­wand­lung der Koch­ni­sche. »Viel­leicht spuk­te da eine Film­sze­ne durch mei­nen Kopf. Oder etwas, das ich gele­sen habe. Jeden­falls ken­ne ich den Raum nicht.« Er zöger­te. »Aber die­ser Fried­helm. Ich hat­te das Aus­se­hen die­ses Men­schen völ­lig ver­ges­sen.« Kopf­schüt­telnd füg­te er hin­zu: »Wenn das damals so gelau­fen ist … arme Han­ne.«

»Mein Ein­druck ist, dass Ihre Erin­ne­rung leb­haft war. Mit vie­len Ein­zel­hei­ten«, kon­sta­tier­te Back­haus, wäh­rend die Jalou­sien auf Geheiß sei­nes Dau­mens das Zwie­licht ver­bann­ten.

Curt brumm­te beja­hend. Er wuss­te, dass gestei­ger­te Gedächt­nis­leis­tun­gen schon bei rela­tiv leich­ten Tran­cen auf­tre­ten konn­ten. 

»Aber wie ver­läss­lich ist mei­ne Erin­ne­rung?«, frag­te er.

Back­haus ant­wor­te­te mit einer Gegen­fra­ge: »Was den­ken Sie?«

»Hm, durch­wach­sen wür­de ich sagen. Einer­seits war das alles ver­dammt plas­tisch und leben­dig. Ich konn­te mich an so vie­le Details ent­sin­nen. Nur die­ser dunk­le Raum. Der passt gar nicht. Und hat mei­ne Mut­ter wirk­lich mein Bru­der gesagt und nicht, wie ich gemut­maßt habe, mein Sohn? Ich war mir so sicher.« Der Gale­rist mach­te eine hilf­lo­se Hand­be­we­gung. »Gesetzt den Fall, es ist damals so pas­siert, wie ich es gera­de gese­hen habe, hät­te ich über­haupt kapiert, dass Han­ne­lo­re mei­ne Mut­ter ist? Von wegen Loch und gekro­chen?«

Der Psych­ia­ter räus­per­te sich. »Nun, die von Ihnen beschrie­be­nen Gegen­stän­de wie Glä­ser, Tisch­de­cke et cete­ra beglei­te­ten Sie vie­le Mona­te, even­tu­ell sogar Jah­re Ihres Lebens. Der Dia­log zwi­schen Ihrer Frau Mut­ter und deren Freund war ein epi­so­di­sches Ereig­nis, dazu ein hoch­gra­dig emo­tio­na­les. Ein Fra­ge­zei­chen, ob das so statt­ge­fun­den hat, soll­te erlaubt sein. Was sagt Ihr Gefühl?« (…)

»Mein Gefühl? Das sagt Kei­ne Ahnung – mit leich­ter Ten­denz zu Mag so gewe­sen sein.« Curt atme­te tief ein, dann lang­sam und bedäch­tig aus. »Nur die­sen Stuhl in die­sem unheim­li­chen Raum«, flüs­ter­te er wie im Selbst­ge­spräch, »den krie­ge ich abso­lut nicht ver­packt.« (…)

Sei­te Der Autor

Heinz Hachel

Nach der Aus­bil­dung zum Wer­be­kauf­mann stu­dier­te der gebür­ti­ge Düs­sel­dor­fer Sozi­al­wis­sen­schaf­ten mit Schwer­punkt Poli­to­lo­gie. In Auf­sät­zen und Vor­trä­gen beschäf­tig­te er sich mit dem The­men­kreis Rechts­extre­mis­mus. Spä­ter arbei­te­te er als Pro­jekt­lei­ter in Inter­net­agen­tu­ren. Heu­te betreibt Heinz Hachel eine Online-Gale­rie und ist als Kunst­ver­mitt­ler in einer Skulp­tu­ren­hal­le nahe Düs­sel­dorf tätig.


Inter­view mit dem Autor

»Bru­ders Wahn« spielt im Jahr 2013, die Geschich­te wirkt aber über­ra­schend aktu­ell.

Heinz H.: Ja, er passt in die­se Zeit, obgleich ich den Plot bereits 2010 ent­wi­ckelt habe. Dann Schub­la­de, spo­ra­di­sches Schrei­ben, wie­der Schub­la­de. Und so hat sich das Pro­jekt über etli­che Jah­re hin­ge­zo­gen. Jah­re, in denen in Deutsch­land und der Welt viel pas­siert ist.

Zum Bei­spiel Fake News, Quer­den­ker und Trum­pis­mus.

Heinz H.: Genau. Wor­auf der Roman aber ganz gene­rell abhebt, ist das Brü­chig­wer­den von gesell­schaft­li­cher Wirk­lich­keit. Und dazu braucht es kein Inter­net, kei­ne Echo­kam­mern und Fil­ter­bla­sen. So etwas funk­tio­niert auch ganz ana­log. Den­ken Sie nur an Glau­bens­sys­te­me, die Men­schen in zuwei­len recht skur­ri­le Vor­stel­lungs­wel­ten ent­füh­ren.

In Ihrer Geschich­te spielt die Anthro­po­so­phie eine nicht unwe­sent­li­che Rol­le. War­um?

Heinz H.: Das hat gewis­ser­ma­ßen bio­gra­fi­sche Grün­de. In den 80er war ich bei den Düs­sel­dor­fer Grü­nen und habe dort einen Joseph Beuys erle­ben dür­fen. Anfang fand ich sei­ne Mono­lo­ge auch recht inter­es­sant. Irgend­wann aber habe ich mir gesagt: Irgend­et­was stimmt da nicht. Aber so gar nicht! Damals stu­dier­te ich in Duis­burg Sozi­al­wis­sen­schaf­ten und beschäf­tig­te mich gera­de im Rah­men eines Semi­nars mit der Steiner’schen Welt­an­schau­ung, einem im Kern recht düs­te­ren völ­ki­schen Gebräu. Natür­lich wuss­te ich, dass Beuys Anthro­po­soph war, und plötz­lich konn­te ich sei­ne gan­zen ver­schwur­bel­ten Äuße­run­gen kon­tex­tua­li­sie­ren. Gru­se­lig. Vor eini­gen Jah­ren lern­te ich dann im Rah­men eines Kunst­pro­jek­tes Albert Mar­kert ken­nen, der zusam­men mit Frank Gie­se­ke die ers­te kri­ti­sche Beuys-Bio­gra­fie »Flie­ger, Filz und Vater­land« geschrie­ben hat­te. Lan­ge Rede, kur­zer Sinn: Ich habe mich immer mal wie­der mit der Anthro­po­so­phie und Beuys beschäf­tigt und die Steiner’sche Welt­spe­ku­la­ti­on dann als atmo­sphä­ri­sche Grun­die­rung für einen Kri­mi Noir ver­wen­det.

War­um ein Kri­mi und kein Sach­buch?

Heinz H.: Nun ja, es sind eine Men­ge Sach­bü­cher auf dem Markt, die sich kri­tisch mit der Anthro­po­so­phie und zuneh­mend auch mit Beuys aus­ein­an­der­set­zen. Da woll­te ich nicht auch noch eins schrei­ben. Also habe ich die Form der fik­ti­ven Erzäh­lung gewählt, die …

… tief in die Abgrün­de einer patho­lo­gisch eska­lier­ten Welt­an­schau­ung hin­ab­führt.

Heinz H.: Ja, straight in den Kopf eines Seri­en­kil­lers. Doch es geht natür­lich um viel mehr. So kann der Roman durch­aus als Meta­pher für die Brü­chig­keit unse­rer Zivi­li­sa­ti­on gele­sen wer­den. Aber mehr soll­ten wir an die­ser Stel­le nicht ver­ra­ten.

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