In Trance 1
»Das Erinnern an vergangene Dinge ist nicht unbedingt das Erinnern an geschehene Dinge.«
(Marcel Proust …)1… frei nach David Rossi in: Criminal Minds, Staffel 6, Folge 3
Auszug aus „Bruders Wahn“, Seite 67 – 71
(…) »Aha, kognitive Dissonanz. Interessante Hypothese«, antwortete der Psychiater mit hochgezogenen Augenbrauen. »Sie wollen mich doch nicht arbeitslos machen, Herr Kollege?« Er räusperte sich und forderte Curt auf, die beschriebenen Ereignisse hinsichtlich Deutlichkeit und Gefühlsintensität zu bewerten. Danach folgte, was der Galerist vom autogenen Training her kannte. Arme und Beine, die warm und schwer geredet wurden, ein Herz, dessen Rhythmus von Backhaus’ monotoner Stimme gebeugt, langsam und ruhig schlug.
Ein Gefühl von Geborgenheit erfüllte ihn. Ein leichter, nicht unangenehmer Schwindel suggerierte ihm, tiefer und tiefer zu gleiten. Von weit her hörte er die Worte des Psychiaters: »Sie stehen am Fuße einer hell erleuchteten Treppe. Die führt nach unten. Die Stufen sind breit und sicher. Es ist die Treppe Ihrer Erinnerung. Mit jeder Stufe gehen Sie ein Jahr zurück in der Zeit. Sie sind entspannt und wohlbehütet.«
Vor Curts Augen tanzten wolkige Schleier. Unbestimmte Umrisse zeichneten sich ab, lösten sich auf. Einen Atemzug lang gerann der amorphe Dunst zu überdimensionalen Stufen, um dann den Blick auf eine Treppe freizugeben.
»Tun Sie den ersten Schritt.« Curt ging ihn. Jetzt zählte er 54 Jahre.
»Rechts sehen Sie Türen. Dahinter liegen die Stätten Ihrer Erinnerung … Sie sind auf Stufe 40, Sie gehen weiter, Stufe für Stufe … 39 … 38 … 37 …«
Der Galerist fühlte sich leicht und unbeschwert. Dieser Zustand entsprach so gar nicht der von ihm befürchteten Willenlosigkeit. Ohne Bedenken folgte er den Anweisungen. Minuten später stand er auf Stufe vier.
»Wir begegnen nun einer Ihrer frühesten Erinnerungen. Die Tür zu Ihrer Rechten ist geöffnet. Sie führt in die Küche Ihrer Großeltern.«
Curt versuchte, in den wabernden Schwaden etwas zu erkennen. Zuerst war da nichts, bald aber schälten sich blasse Bilder heraus, konturlose Gebilde ohne Bestand, die sich immer wieder neu zu schemenhaften Vorstellungen zusammenfügten, um sich dann irgendwann zu einer konkreten Szenerie zu verdichteten: Hanne, Friedhelm und er saßen am Küchentisch. Friedhelm strich mit einer Hand über seinen Stoppelschnitt. Mit seinen kleinen Schweinsäuglein fixierte er Hanne. Das Bild wurde undeutlich und verschwand, nahm im nächsten Augenblick erneut Gestalt an. Die Perspektive hatte sich geändert. Curt schaute nicht mehr von außen auf die Situation. Diesmal sah er alles aus den Augen seines vierjährigen Ich. Er schilderte Backhaus seine Eindrücke: den bunten Vorhang, halb geöffnet, der die geräumige Kochnische mit Buffetschrank und Kohleofen vom Wohnbereich der Küche trennte. Da war der Tisch mit der blau-weiß karierten Wachstuchdecke, darauf die bunten Legosteine, aus denen er gerade ein Häuschen baute. Das Ölbild an der Wand zeigte eine Landschaft mit schlammigem Wanderweg. Ganz deutlich sah Curt auch das Limonadenglas, bedruckt mit auf Elefanten umhertollenden Schimpansen. Auf dem Sideboard vor dem Fenster stand sein Sparschwein aus rosafarbenem Plastik. Daneben glühte grün das magische Auge des Röhrenradios. Er lauschte der Erinnerung. »Die spielen mein Lieblingslied«, brach es freudig aus ihm heraus, und mit leiser Singstimme ergänzte er: »Ich will ’nen Cowboy als Mann.«
Backhaus beugte den Oberkörper nach vorn. »Beschreiben Sie, was gerade passiert.«
Curt atmete zunächst ruhig und gleichmäßig. Dann plötzlich zwängten sich Worte aus seinem Mund – widerstrebend und in leichtem Staccato. »Friedhelm sagt: Lass uns gehen, aber allein. Er zeigt mit dem Daumen in meine Richtung. Hanne schüttelt den Kopf, sie ist ärgerlich. Curtchen kommt mit, sagt sie. Friedhelm fragt, ob das sein muss. Ja, das muss sein. Er ist mein Bruder und er freut sich schon den ganzen Tag auf den Ausflug. Friedhelm springt auf. Wie ihr mir auf die Nerven geht, schimpft er. Du und dein Balg. Bruder! Leg mal ’ne andere Platte auf. Hättest du dich nicht flachlegen lassen, hinge er dir nicht den lieben langen Tag am Rockzipfel! Dann müsstest du nicht dieses lächerliche Theater mitmachen. Das ist doch krank. Der Kleine weiß eh, aus welchem Loch er gekrochen ist.«
Der Galerist verstummte. Minuten verstrichen. Stille. Schließlich hakte der Psychiater nach, doch Curt schwieg. Schwieg, weil die Kochnische plötzlich leer, ihm fremd und von einem Dämmergrau erfüllt war, in dem sich nur die Silhouette eines kantigen Holzstuhles abzeichnete, genau in der Mitte des Raumes. Dieser Raum gehörte nicht in diese Wohnung, nicht in sein Leben. Doch bevor er sich auf das düstere Bild und dieses Gefühl der Kälte, das in durchströmte, einlassen konnte, hörte er Backhaus’ Stimme: »Sie verlassen jetzt den Ort Ihrer Kindheit und gehen langsam die Treppe hinauf.« Monoton zählte der Psychiater von 5 bis 55. »Sie fühlen sich frisch und erholt. Öffnen Sie die Augen.«
Curt blinzelte und schaute direkt in Backhaus’ Gesicht. »Wie geht es Ihnen?«, fragte der.
Der Galerist benötigte einige Momente, um sich zu fangen. Dann berichtete er von der eigentümlichen Verwandlung der Kochnische. »Vielleicht spukte da eine Filmszene durch meinen Kopf. Oder etwas, das ich gelesen habe. Jedenfalls kenne ich den Raum nicht.« Er zögerte. »Aber dieser Friedhelm. Ich hatte das Aussehen dieses Menschen völlig vergessen.« Kopfschüttelnd fügte er hinzu: »Wenn das damals so gelaufen ist … arme Hanne.«
»Mein Eindruck ist, dass Ihre Erinnerung lebhaft war. Mit vielen Einzelheiten«, konstatierte Backhaus, während sich die Jalousien auf Geheiß seines Daumens öffneten.
Curt brummte bejahend. Er wusste, dass gesteigerte Gedächtnisleistungen schon bei relativ leichten Trancen auftreten konnten.
»Aber wie verlässlich ist meine Erinnerung?«, fragte er.
Backhaus antwortete mit einer Gegenfrage: »Was denken Sie?«
»Hm, durchwachsen würde ich sagen. Einerseits war das alles verdammt plastisch und lebendig. Ich konnte mich an so viele Details entsinnen. Nur dieser dunkle Raum. Der passt gar nicht. Und hat meine Mutter wirklich mein Bruder gesagt und nicht, wie ich gemutmaßt habe, mein Sohn? Ich war mir so sicher.« Der Galerist machte eine hilflose Handbewegung. »Gesetzt den Fall, es ist damals so passiert, wie ich es gerade gesehen habe, hätte ich überhaupt kapiert, dass Hannelore meine Mutter ist? Von wegen Loch und gekrochen?«
Der Psychiater räusperte sich. »Nun, die von Ihnen beschriebenen Gegenstände wie Gläser, Tischdecke et cetera begleiteten Sie viele Monate, eventuell sogar Jahre Ihres Lebens. Der Dialog zwischen Ihrer Frau Mutter und deren Freund war ein episodisches Ereignis, dazu ein hochgradig emotionales. Ein Fragezeichen, ob das so stattgefunden hat, sollte erlaubt sein. Was sagt Ihr Gefühl?« (…)
»Mein Gefühl? Das sagt Keine Ahnung – mit leichter Tendenz zu Mag so gewesen sein.« Curt atmete tief ein, dann langsam und bedächtig aus. »Nur diesen Stuhl in diesem unheimlichen Raum«, flüsterte er wie im Selbstgespräch, »den kriege ich absolut nicht verpackt.« (…)