Sei­te Das Hasen­grab

Das Hasen­grab

»Wie gesagt, noch ein totes Tier bewahrt stär­ke­re Kräf­te der Intui­ti­on als man­che mensch­li­che Wesen mit ihrem uner­bitt­li­chen Ratio­na­lis­mus.«

(Kom­men­tar von Joseph Beuys zu sei­ner Akti­on »Wie man dem toten Hasen die Bil­der erklärt«)1 Beuys, Josef zit. n. Hoh­mann, Sil­ke in: Mono­pol-Sup­ple­ment ‚beuys 2021‘, Ber­lin 2021, S. 33

Aus­zug aus „Bru­ders Wahn“, Sei­te 131 – 134

Drei mal vier Meter maß der Raum – ein unter­ir­di­scher Bun­ker jen­seits der Wan­der­we­ge im Kot­ten­forst, einem aus­ge­dehn­ten Wald­ge­biet süd­lich von Bonn. Hier hat­te er unter einer Wald­lich­tung die­sen ver­ges­se­nen Muni­ti­ons­bun­ker aus dem Zwei­ten Welt­krieg ent­deckt. Kein Zufall. Eine Wehr­machts­kar­te aus den frü­hen 40ern hat­te ihn gelei­tet. Die war sei­nem Vater von Rüdi­ger Wachs­muth, einem lie­ben Freund und Wis­sens­bru­der, anver­traut wor­den.

Der Bun­ker hat­te sich als ein nur pro­vi­so­risch errich­te­tes Bau­werk erwie­sen. Wän­de und Decke aus sprö­den Beton, der Boden nur fest­ge­stampf­te Erde. In schweiß­trei­ben­der Arbeit hat­te er den Raum von Unrat und Morast befreit und die Luke, sie lag gleich­auf mit dem Wald­bo­den, mit Holz und Moos beklebt und mit einem funk­ge­steu­er­ten Ver­rieg­lungs­me­cha­nis­mus aus­ge­rüs­tet.

Hasen­grab hat­te er den Bun­ker getauft. Hasen­grab – wegen der drei ver­mo­der­ten Hasen­ske­let­te, die er beim Aus­mis­ten des Rau­mes ent­deckt hat­te. Die Schä­del hin­gen jetzt vor ihm an der Wand neben einem Kru­zi­fix aus Eichen­holz und einem hand­tel­ler­gro­ßen Selbst­por­trät sei­nes Vaters – gemalt mit skiz­zen­haf­ten Pin­sel­stri­chen auf brau­ner Pap­pe. Unter­halb des Bil­des stand ein Sche­mel, der dem Alten einst zum Ver­schnau­fen dien­te. Das Gra­vi­ta­ti­ons­zen­trum des Rau­mes aber bil­de­te ein schwe­rer Eisen­ku­bus mit einer Kan­ten­län­ge von gut einem hal­ben Meter. Aus mas­si­ven Plat­ten zusam­men­ge­schraubt und mit der Zeit von Flug­rost über­zo­gen, ruh­te er in einer Ecke des Ver­lie­ses. Sei­nen Zweck ver­riet eine ein­ein­halb Meter lan­ge Stahl­ket­te, die ihm zu ent­wach­sen schien und deren Ende mit einer Hand­schel­le ver­schweißt war.

Das Bild des Eth­no­lo­gen Rupert Peter­sen tauch­te vor Georg auf, wie der vor weni­gen Mona­ten ent­kräf­tet, ver­schmutzt und mit blu­tig geschürf­tem Hand­ge­lenk auf dem küh­len Lehm­bo­den kau­er­te, den Ober­kör­per ängst­lich an die Wand gepresst.

Dem Alten war sofort klar gewe­sen, dass die Mut­ter die­ses Mulat­ten zu vie­le Roma­ne gele­sen hat­te, in denen Neger mit­spiel­ten. Sol­chen Frau­en krö­chen dann von Natur aus Bas­tar­de aus dem Schoß. Das hät­te schon Dok­tor Stei­ner gewusst.2Pas­sus inspi­riert von: Stei­ner, Rudolf: Zehn­ter Vor­trag, 30. Dezem­ber 1922, Fie­ber – Kol­laps – Schwan­ger­schaft, in: Über Gesund­heit und Krank­heit. Grund­la­gen einer geis­tes­wis­sen­schaft­li­chen Sin­nes­leh­re (GA 348), 4. Aufl., Dor­nach, 1997, S. 189: »… da ent­steht durch rein geis­ti­ges Lesen von Neger­ro­ma­nen eine gan­ze Anzahl von Kin­dern in Euro­pa, die ganz grau sind, Mulat­ten­haa­re haben wer­den, die mulat­ten­ähn­lich aus­se­hen wer­den!«

Drau­ßen in der Welt war Peter­sen an vor­ders­ter Ver­leum­dungs­front mar­schiert, hat­te einen Hei­den­lärm ver­an­stal­tet, sich die Fin­ger wund geschrie­ben und wut­schäu­mend gegen alles agi­tiert, was aus jen­sei­ti­gen Gefil­den in das Bewusst­sein der Men­schen dräng­te. Nur eines woll­te er gel­ten las­sen – Wis­sen­schaft! Empi­rie! Ratio­na­li­tät! Unbe­irrt hat­te er die­ses Den­ken als das eige­ne genom­men, nicht gespürt, dass es ein von den ahri­ma­ni­schen Kräf­ten Auf­ge­zwun­ge­nes war.

Georg erin­ner­te sich genau, wie er die Kopf­haut des Man­nes mit Engelstau ver­sie­gelt hat­te, einer Sub­stanz, deren Wir­kung sein Vater vor Jah­ren ent­deckt und mit dem wun­der­ba­ren Namen Engelstau beschrie­ben hat­te. Neun Tei­le Tier­fett von Wie­der­käu­ern, ein Teil Kno­chen­mehl vom Hirsch, ver­rührt beim Licht des zuneh­men­den Mon­des mit einer Prie­se Mis­tel­pul­ver. Eine Mix­tur, die die Ein­flüs­te­run­gen der im Leib hau­sen­den Geis­ter zur Kennt­lich­keit ver­stär­ken und so dem Men­schen hel­fen soll­te, den Trug der frem­den Gedan­ken zu durch­schau­en. Doch meist miss­trau­te der ver­gif­te­te Geist der Wahr­heit. Auch Rupert Peter­sen reagier­te ver­wirrt und ver­wei­ger­te sich grei­nend dem Wis­sen­wol­len. Der üble Geruch von Urin, Kot, Angst­schweiß und Tod hat­te wochen­lang die Luft des Hasen­grabs ver­pes­tet und Georgs Erin­ne­rung an die letz­ten Stun­den die­ses Man­nes wach­ge­hal­ten. Wie der ihn nur noch stumpf ange­starrt und jäm­mer­lich um sein biss­chen Leben gewin­selt hat­te.

Wah­re Erlö­sung, hat­te er zu dem Misch­ling gesagt, kön­nen dir nur Tod und kar­mi­sche Läu­te­rung schen­ken. Neu­es Leben, neue Chan­ce. Da hat­te Peter­sen auf­ge­stöhnt und ihn mit ungläu­big auf­ge­ris­se­nen Augen ange­se­hen. Ungläu­big. Georg schmun­zel­te über den Dop­pel­sinn des Wor­tes.

Immer­hin hat­te der Kerl noch den Namen eini­ger Kum­pa­ne aus­ge­spuckt. Wohl in der Hoff­nung, mit sei­ner Gestän­dig­keit dem Unaus­weich­li­chen ein wenig Zeit abzu­trot­zen, viel­leicht sogar sein Leben zu ret­ten. Aber so waren die meis­ten von ihnen. Erst zum Schluss rück­ten sie mit ein paar Bröck­chen Wahr­heit her­aus.

Die Hoff­nung stirbt zuletzt, aber sie stirbt. Die­se Plat­ti­tü­de pfleg­te sein Vater bei sol­chen Gele­gen­hei­ten schmun­zelnd zu zitie­ren. Jetzt ruh­te Rupert Peter­sen zu sei­nen Füßen. Unter zwei Hand­breit Erde, wie es sich für einen astro­lo­gi­schen Stein­bock geziemt. Erd­zei­chen gehö­ren unter die Erde gebracht, hat­te sein Vater ihm ein­ge­schärft. Nur auf die­se Wei­se kön­ne der Delin­quent mit einer guten Pro­gno­se in das nächs­te Erden­le­ben ent­las­sen wer­den.

Noch immer spür­te Georg die Todes­angst des Man­nes. Sie erfüll­te den gesam­ten Raum und wür­de das Pro­ze­de­re befruch­ten, das er für die Gold­mund geplant hat­te. Mit ihrem Ver­hör galt es eine Prü­fung zu absol­vie­ren, wie er sie sich ele­men­ta­rer nicht vor­stel­len konn­te.

Der Gedan­ke an die Phi­lo­so­phin ließ ihn vor Zorn erzit­tern, ein Zorn, der ihn unbe­herrscht mach­te, den er zügeln muss­te und der, das wuss­te er nur zu genau, nicht die­ser Frau allein galt, son­dern eben­so ihm selbst. Wohl an die tau­send­mal hat­te er die Grün­de die­ses Selbst­has­ses mit sei­nem Vater durch­de­kli­niert und sie wie­der und wie­der in der Janus­köp­fig­keit der Welt gefun­den. Denn die durch­pflüg­te auch ihn selbst, ließ ihn eine Art per­ver­ses Ver­ste­hen für die­se Sub­jek­te auf­brin­gen. Mit­un­ter gar Mit­leid, weil er einst wie sie war und ein mor­scher Teil sei­ner See­le sich ihnen nach wie vor ver­bun­den fühl­te. Im Schlaf wur­de er von ihrem Kla­gen und Wim­mern gepei­nigt. Da konn­te er sich noch so sehr auf die Hei­lig­keit sei­ner Mis­si­on beru­fen. Es gab Zei­ten, da bra­chen die­se Bil­der in sein Leben ein wie der Mahl­strom in die ruhi­ge See. In die­sen Momen­ten der see­li­schen Not, in denen ihm sein grau­sa­mes Tun und die Brü­chig­keit sei­ner Exis­tenz schmerz­haft gewahr wur­den, leis­te­te sein Vater ihm Bei­stand. Klug tat er das, ver­ständ­nis­voll und gedul­dig. Er rief ihm alte Lek­tio­nen ins Gedächt­nis. Das Töten fol­ge einer über­ge­ord­ne­ten Ver­nunft und ent­sprän­ge der Not­wen­dig­keit, See­len­gü­te wal­ten zu las­sen. Nicht gegen­über dem ver­gäng­li­chen Leib der Ver­führ­ten. Allein ihr gött­li­ches Ich galt es zu erret­ten.

Georg stell­te zwei Kar­tons mit Lebens­mit­teln neben den Eisen­ku­bus. Pro­vi­ant für die Gold­mund. Alles woll­te gut vor­be­rei­tet sein.