Tagebuch
(Auszüge)
Auszug aus „Bruders Wahn“, Seite 37 – 39
8. Mai 1954: Auf den Tag genau neun Jahre ist es her, fast so lange, wie der ganze Spuk selbst gedauert hat. Eine vertane Chance. Hätte etwas Großes draus werden können, Schöpferisches. Jetzt tun sie so, als ob nichts gewesen wäre, prahlen mit ihren feisten Bäuchen und stinkenden Zigarren, haben nur eins im Kopf: Deutschland Wirtschaftswunderland! Anstatt sich das Wams vollzuschlagen, sollten sich diese Kretins lieber um ihr Seelenheil kümmern. Und ich? Ich rede mir den Mund fusselig. Jeden Abend – von sieben bis neun. Und was bewege ich? Warme Luft bewege ich. Es ist frustrierend.
12. Mai 1954: So darf es nicht weitergehen. Fühle mich leer und unnütz. Wage nicht, das Richtige zu tun.
26. Mai 1954: Wie hat der alte Liebermann gesagt? Ick kann jar nich soville fressen, wie ick kotzen möchte. So ging’s mir gestern, geht’s mir heute, wird’s mir morgen gehen. Es sei denn, ich überwinde die Angst und folge den Seelenströmen, die in mein Leben fließen.
19. Juni 1954: Die Erinnerungen verfolgen mich. Wache nächtens um Punkt vier auf, höre das Poltern im Treppenhaus und das Wummern gegen die Tür. Sehe die angstgeweiteten Augen der Eltern, meine Mutter, wie sie mir mit zitternder Hand ihr Medaillon um den Hals hängt und mich fest drückt. Vergiss nie, warum wir auf der Welt sind, flüstert sie. Habe die beiden nicht wiedergesehen. Der Typhus habe sie dahingerafft, hieß es später. Typhus. Ich war nicht so blöde, als daß ich diese Lüge für bare Münze genommen hätte. Bin sicher, daß der Albdruck eine Botschaft ist. Soll ich ihrem Ruf folgen und ein Soldat der Liebe werden?
5. Juli 1954: Freudig glänzende Gesichter allerorten, bei den Kollegen in der Schule, auf den Straßen, in den Schänken. Überall nur ein Thema: Wir sind wieder wer. Wir sind Weltmeister! Widerwillig tue ich mit, obwohl es mich ekelt. Denn wie tönen die Leiber, wenn sie schwitzend dem Ball nachjagen? Ich glaube nicht an Gott. Ich glaube an Fleisch und Knochen, das ist meine einzige Seligkeit. Teufelskerle! Fußballgötter! Was für eine verdammte Blasphemie! Arme und Hände (das originär Menschliche) sind verboten bei diesem Spiel. Stattdessen wird die bloße Kultur der Beine gepflegt. Sogar der Kopf wird als untere Extremität missbraucht, wird zu einem dritten Fuß beim Kopfstoß. Reine Leibesdämonie ist das. Die will den Menschen wegziehen vom Geistigen und zu einem Erdentier machen. Weltmeister! Wie schauerlich, wenn man um die spirituellen Hintergründe weiß.2Passus inspiriert von 1.: Steiner, Rudolf: Vom Wirken des Ätherischen und Astralischen im Menschen und in der Erde. Mai 1923, in: Vorträge für die Arbeiter am Goetheanumbau (GA 350), 3. Aufl., Dornach, 1991, S. 28f: »Ja, wofür interessieren sich heute die Menschen? Also viel mehr als für irgendein Ereignis, das mit Wohl und Wehe von Millionen Menschen etwas zu tun hat, interessieren sich heute die Leute für diese Dinge (Steiner bezieht sich hier vor allem auf das Fußballspiel H.H.), die nach und nach den physischen Leib wegziehen vom Ätherleib, so daß der Mensch überhaupt nurmehr ein Erdentier wird. (…) Dann gehen sie auf den Sportplatz. Ja, da sprechen sie es nicht mit Worten aus, aber was die da tun, wenn man es in Worte fasst, so heißt das: Ich glaube ja nicht an einen Gott im Himmel. Der hat mir den Ätherleib gegeben, aber von dem will ich nichts wissen. Ich glaube an Fleisch und Knochen, das ist meine einzige Seligkeit.«
Passus inspiriert von 2.: Birnthaler, Michael: Der Streit um den Fußball, in: Erziehungskunst, 6/2006, S. 688–694: »Das bekannteste waldorfpädagogische Argument gegen das Fußballspiel entstammt der anthroposophischen Anthropologie, welche den Menschen in einen Kopfbereich mit dem Nerven-Sinnes-System (Denken), den Brustbereich mit dem Rhythmischen System (Fühlen) und einen dritten Bereich mit dem Stoffwechsel-Gliedmaßensystem (Wollen) gliedert. Was den Menschen primär vom Tier unterscheidet, ist die ›Umbildung‹ des Stoffwechsel-Gliedmaßensystems, das heißt, die Umwandlung der beiden vorderen Beine in Arme und Hände. Somit sind zwei Gliedmaßen von der hauptsächlichen Funktion der Fortbewegung befreit worden und haben dadurch die ›handwerklich‹-technische und kulturelle Entwicklung des Menschen ermöglicht. Beim Fußballspiel dagegen zeigt sich das entgegengesetzte Bild: Arme und Hände, das spezifisch Humane, sind ausgeschaltet und verboten; stattdessen wird wie in keiner anderen Disziplin eine bloße Kultur der Beine gepflegt. Die Reduzierung der menschlichen Wesensbestandteile geht dann so weit, dass auch der Kopf zu einem Gliedmaßenorgan umfunktioniert wird: In seiner Möglichkeit, per ›Kopfstöße‹ zu agieren und Tore zu erzielen, erhält er die Bedeutung eines dritten ›Fußes‹.«
8. Juli 1954: Mich plagen Zweifel. Schweres Ringen. Ist meine Hingabe an das Wahrhaftige und die Verachtung für das Widerstrebende groß genug, um das Notwendige zu tun? Unbarmherzigkeit wäre mein ständiger Begleiter. Was würden Vater und Mutter raten? Würden sie mich drängen, als stumpfes Herdenvieh zu leben?
10. Juli 1954: Ging in der Früh die Corneliusstraße entlang, als ein Mann vor mir auf den Gehsteig prallte. Aus großer Höhe gesprungen, lag er da. Mit dem gebrochenen Rücken auf dem Bordstein. Ein Selbstmörder. Ich hab getan, was ich tun musste, stöhnte er und starb.
14. Juli 1954: Die Worte des Selbstmörders gehen mir nicht aus dem Sinn. Bin sicher, dass sie den Zauderer in mir überzeugen wollen, sich endlich seiner Aufgabe zu stellen. Denn Wirklichkeit wird der göttliche Plan allein durch das beherzte Handeln des Eingeweihten. Ich bin ein Eingeweihter. Bin es, seit ich denken kann. Habt Dank, Vater und Mutter.