Tage­buch

Tage­buch
(Aus­zü­ge)

»Ver­nunft ist nichts Auto­ma­ti­sches. Jene, die sie leug­nen, kön­nen nicht durch sie erobert wer­den.«

Ayn Rand1 zit. n. For­bes, auf­ge­ru­fen am 19.02.2024 (Zitat im Ori­gi­nal: »Reason is not auto­ma­tic. Tho­se who deny it can­not be con­que­r­ed by it.«)

Aus­zug aus „Bru­ders Wahn“, Sei­te 37 – 39

8. Mai 1954: Auf den Tag genau neun Jah­re ist es her, fast so lan­ge, wie der gan­ze Spuk selbst gedau­ert hat. Eine ver­ta­ne Chan­ce. Hät­te etwas Gro­ßes draus wer­den kön­nen, Schöp­fe­ri­sches. Jetzt tun sie so, als ob nichts gewe­sen wäre, prah­len mit ihren feis­ten Bäu­chen und stin­ken­den Zigar­ren, haben nur eins im Kopf: Deutsch­land Wirt­schafts­wun­der­land! Anstatt sich das Wams voll­zu­schla­gen, soll­ten sich die­se Kre­tins lie­ber um ihr See­len­heil küm­mern. Und ich? Ich rede mir den Mund fus­se­lig. Jeden Abend – von sie­ben bis neun. Und was bewe­ge ich? War­me Luft bewe­ge ich. Es ist frus­trie­rend.

12. Mai 1954: So darf es nicht wei­ter­ge­hen. Füh­le mich leer und unnütz. Wage nicht, das Rich­ti­ge zu tun.

26. Mai 1954: Wie hat der alte Lie­ber­mann gesagt? Ick kann jar nich soville fres­sen, wie ick kot­zen möch­te. So ging’s mir ges­tern, geht’s mir heu­te, wird’s mir mor­gen gehen. Es sei denn, ich über­win­de die Angst und fol­ge den See­len­strö­men, die in mein Leben flie­ßen.

19. Juni 1954: Die Erin­ne­run­gen ver­fol­gen mich. Wache näch­tens um Punkt vier auf, höre das Pol­tern im Trep­pen­haus und das Wum­mern gegen die Tür. Sehe die angst­ge­wei­te­ten Augen der Eltern, mei­ne Mut­ter, wie sie mir mit zit­tern­der Hand ihr Medail­lon um den Hals hängt und mich fest drückt. Ver­giss nie, war­um wir auf der Welt sind, flüs­tert sie. Habe die bei­den nicht wie­der­ge­se­hen. Der Typhus habe sie dahin­ge­rafft, hieß es spä­ter. Typhus. Ich war nicht so blö­de, als daß ich die­se Lüge für bare Mün­ze genom­men hät­te. Bin sicher, daß der Alb­druck eine Bot­schaft ist. Soll ich ihrem Ruf fol­gen und ein Sol­dat der Lie­be wer­den?

5. Juli 1954: Freu­dig glän­zen­de Gesich­ter aller­or­ten, bei den Kol­le­gen in der Schu­le, auf den Stra­ßen, in den Schän­ken. Über­all nur ein The­ma: Wir sind wie­der wer. Wir sind Welt­meis­ter! Wider­wil­lig tue ich mit, obwohl es mich ekelt. Denn wie tönen die Lei­ber, wenn sie schwit­zend dem Ball nach­ja­gen? Ich glau­be nicht an Gott. Ich glau­be an Fleisch und Kno­chen, das ist mei­ne ein­zi­ge Selig­keit. Teu­fels­ker­le! Fuß­ball­göt­ter! Was für eine ver­damm­te Blas­phe­mie! Arme und Hän­de (das ori­gi­när Mensch­li­che) sind ver­bo­ten bei die­sem Spiel. Statt­des­sen wird die blo­ße Kul­tur der Bei­ne gepflegt. Sogar der Kopf wird als unte­re Extre­mi­tät miss­braucht, wird zu einem drit­ten Fuß beim Kopf­stoß. Rei­ne Lei­bes­dä­mo­nie ist das. Die will den Men­schen weg­zie­hen vom Geis­ti­gen und zu einem Erden­tier machen. Welt­meis­ter! Wie schau­er­lich, wenn man um die spi­ri­tu­el­len Hin­ter­grün­de weiß.2Pas­sus inspi­riert von 1.: Stei­ner, Rudolf: Vom Wir­ken des Äthe­ri­schen und Astra­li­schen im Men­schen und in der Erde. Mai 1923, in: Vor­trä­ge für die Arbei­ter am Goe­the­an­um­bau (GA 350), 3. Aufl., Dor­nach, 1991, S. 28f: »Ja, wofür inter­es­sie­ren sich heu­te die Men­schen? Also viel mehr als für irgend­ein Ereig­nis, das mit Wohl und Wehe von Mil­lio­nen Men­schen etwas zu tun hat, inter­es­sie­ren sich heu­te die Leu­te für die­se Din­ge (Stei­ner bezieht sich hier vor allem auf das Fuß­ball­spiel H.H.), die nach und nach den phy­si­schen Leib weg­zie­hen vom Äther­leib, so daß der Mensch über­haupt nur­mehr ein Erden­tier wird. (…) Dann gehen sie auf den Sport­platz. Ja, da spre­chen sie es nicht mit Wor­ten aus, aber was die da tun, wenn man es in Wor­te fasst, so heißt das: Ich glau­be ja nicht an einen Gott im Him­mel. Der hat mir den Äther­leib gege­ben, aber von dem will ich nichts wis­sen. Ich glau­be an Fleisch und Kno­chen, das ist mei­ne ein­zi­ge Selig­keit.«

Pas­sus inspi­riert von 2.: Birn­tha­ler, Micha­el: Der Streit um den Fuß­ball, in: Erzie­hungs­kunst, 6/2006, S. 688–694: »Das bekann­tes­te wal­dorf­päd­ago­gi­sche Argu­ment gegen das Fuß­ball­spiel ent­stammt der anthro­po­so­phi­schen Anthro­po­lo­gie, wel­che den Men­schen in einen Kopf­be­reich mit dem Ner­ven-Sin­nes-Sys­tem (Den­ken), den Brust­be­reich mit dem Rhyth­mi­schen Sys­tem (Füh­len) und einen drit­ten Bereich mit dem Stoff­wech­sel-Glied­ma­ßen­sys­tem (Wol­len) glie­dert. Was den Men­schen pri­mär vom Tier unter­schei­det, ist die ›Umbil­dung‹ des Stoff­wech­sel-Glied­ma­ßen­sys­tems, das heißt, die Umwand­lung der bei­den vor­de­ren Bei­ne in Arme und Hän­de. Somit sind zwei Glied­ma­ßen von der haupt­säch­li­chen Funk­ti­on der Fort­be­we­gung befreit wor­den und haben dadurch die ›handwerklich‹-technische und kul­tu­rel­le Ent­wick­lung des Men­schen ermög­licht. Beim Fuß­ball­spiel dage­gen zeigt sich das ent­ge­gen­ge­setz­te Bild: Arme und Hän­de, das spe­zi­fisch Huma­ne, sind aus­ge­schal­tet und ver­bo­ten; statt­des­sen wird wie in kei­ner ande­ren Dis­zi­plin eine blo­ße Kul­tur der Bei­ne gepflegt. Die Redu­zie­rung der mensch­li­chen Wesens­be­stand­tei­le geht dann so weit, dass auch der Kopf zu einem Glied­ma­ßen­or­gan umfunk­tio­niert wird: In sei­ner Mög­lich­keit, per ›Kopf­stö­ße‹ zu agie­ren und Tore zu erzie­len, erhält er die Bedeu­tung eines drit­ten ›Fußes‹.«

8. Juli 1954: Mich pla­gen Zwei­fel. Schwe­res Rin­gen. Ist mei­ne Hin­ga­be an das Wahr­haf­ti­ge und die Ver­ach­tung für das Wider­stre­ben­de groß genug, um das Not­wen­di­ge zu tun? Unbarm­her­zig­keit wäre mein stän­di­ger Beglei­ter. Was wür­den Vater und Mut­ter raten? Wür­den sie mich drän­gen, als stump­fes Her­den­vieh zu leben?

10. Juli 1954: Ging in der Früh die Cor­ne­li­us­stra­ße ent­lang, als ein Mann vor mir auf den Geh­steig prall­te. Aus gro­ßer Höhe gesprun­gen, lag er da. Mit dem gebro­che­nen Rücken auf dem Bord­stein. Ein Selbst­mör­der. Ich hab getan, was ich tun muss­te, stöhn­te er und starb.

14. Juli 1954: Die Wor­te des Selbst­mör­ders gehen mir nicht aus dem Sinn. Bin sicher, dass sie den Zau­de­rer in mir über­zeu­gen wol­len, sich end­lich sei­ner Auf­ga­be zu stel­len. Denn Wirk­lich­keit wird der gött­li­che Plan allein durch das beherz­te Han­deln des Ein­ge­weih­ten. Ich bin ein Ein­ge­weih­ter. Bin es, seit ich den­ken kann. Habt Dank, Vater und Mut­ter.